K. Tenfelde (Hrsg.): Religiöse Sozialisationen im 20. Jahrhundert Zeitge

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Titel
Religiöse Sozialisationen im 20. Jahrhundert. Historische und vergleichende Perspektiven


Herausgeber
Tenfelde, Klaus
Erschienen
Essen 2010: Klartext Verlag
Anzahl Seiten
2010
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Martina Sochin D’Elia

«Sozalisation» als Forschungsgebiet ist nicht neu, um nicht zu sagen, dass sich die Sozialwissenschaften, aber vornehmlich auch die Psychologie und die Pädagogik nicht schon eingehend damit beschäftigt hätten. Was bislang allerdings als praktisch inexistent galt, ist eine historische Untersuchung verschiedener Sozialisationsfelder.

Diesem Umstand Rechnung tragend, hatte sich seit 2005 an der Ruhr-Universität Bochum unter der Leitung von Klaus Tenfelde (1944–2011) eine durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderte Forschergruppe zusammengefunden, die sich mit (historischen) religiösen Sozialisationsprozessen beschäftigt(e). Als Produkt eines Symposiums des Jahres 2007 an der gleichnamigen Universität ist ein Sammelband erschienen, der dem bisherigen Mangel an historischen Untersuchungen zu Sozialisation und darüber hinaus historischen Untersuchungen zu religiösen Sozialisationsaspekten entgegenwirken soll.

In einem einleitenden Beitrag führt der Herausgeber Klaus Tenfelde auf das Untersuchungsfeld von religiöser Sozialisation hin, indem er sich dem Thema Sozialisation im Allgemeinen annähert und die wichtigsten Sozialisationsinstanzen wie die Familie, die Schule aber auch die Religion bzw. Kirche nennt. Gerade der religiösen Sozialisation spricht er eine herausragende Bedeutung zu, da Religion «nicht zuletzt wegen der ebenfalls in tief greifendem Wandel begriffenen Rolle der Religion als Klammer für Weltund Gesellschaftsdeutungen, Normvorstellungen und Handlungsorientierungen» (12) dient. Den Ausführungen Tenfeldes zufolge, bietet gerade die historische Sozialisationsforschung die besondere Möglichkeit, Gesellschaftsgeschichte vom Ansatz einer longue durée zu schreiben, gerade auch wenn man in Betracht zieht, dass religiöse Identität einen lebenslangen Charakter aufweist im Hinblick auf die Praktizierung von Religion und damit «integraler Bestandteil der Gesamtsozialisation » (13) ist. Als gleichwohl besonders interessantes «Nebenprodukt» der historischen religiösen Sozialisationsforschung ist der Umstand zu bezeichnen, dass mit dem nachzuzeichnenden Wandel von (religiösen) Sozialisationen auch gleichzeitig Transformationen von Religion gedeutet werden können.

Wie der Untertitel des Sammelbandes schon andeutet, nähern sich aus historischer, aber auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive insgesamt 12 Beiträge dem Thema «religiöse Sozialisationen» an. Gegliedert wurden diese in die übergeordneten Kapitel «Instanzen der religiösen Sozialisation», «Schichtspezifische Sozialisation des Religiösen » und «Religiöse Sozialisationen im Vergleich». Die grosse Bandbreite an Zugängen ist erfreulich, wie auch die übergeordneten Kapitel wohl als Struktur des Sammelbandes begriffen werden können, keinesfalls aber in sich abgeschlossene Elemente darstellen, sondern untereinander Verknüpfungen anbieten.

Die Beiträge sind zudem nicht auf einzelne Formen von Religion bzw. Religiosität beschränkt. Der Katholizismus kommt gleich zur Sprache wie auch der Protestantismus und der Islam, wie auch alternative Formen von Religiosität Eingang in den Sammelband gefunden haben. Christoph Kösters gibt einen Forschungsüberblick zur Geschichte des Vereinskatholizismus und berücksichtigt dabei auch Transformationsprozesse. Während sich Mark Edward Ruff und Michael Fellner dem (west)deutschen Katholizismus und dessen – auch durch religiöse Sozialisationen – stattfindende Transformation annehmen, handelt Dimitrij Owetschkins Beitrag von den sich wandelnden Sozialisationszielen bei der Konfirmandenarbeit. Margrete Søvik wiederum widmet sich der Entwicklung von Islam-Unterricht in Deutschland und zeigt auf, wie anhand von dessen Entwicklung gleichzeitig auch der Wandel des Selbstverständnisses zu integrationsrelevanten Themen der muslimischen Diaspora aufgezeichnet werden kann. Einen schichtspezifischen Zugang bietet Friederike Benthaus-Apels Beitrag, indem sie nachzuzeichnen vermag, dass eher gebildete Schichten nach Formen von alternativer Religiosität suchen.

Gleichwohl werden alle im Leitbeitrag hervorgehobenen Sozialisationsinstanzen berücksichtigt, also sowohl die innerfamiliäre religiöse Sozialisation wie auch die schulische. Das Hauptaugenmerk des Bandes liegt aber wesentlich auf Sozialisationsprozessen, die im Rahmen von kirchlich organisierten oder beeinflussten Instanzen stattfanden. Tabea Sporer hat sich der innerfamiliären Sozialisation von Religion zu Beginn des 21. Jahrhunderts angenommen, wobei ihr sozialwissenschaftlicher Ansatz einen Kontrapunkt zu den ansonsten doch eher im historischen Bereich zu verortenden Beiträgen darstellt. Julia Riediger vermag in ihrem religionssoziologischen Beitrag zur religiösen Sozialisation in der Arbeiterschaft zu zeigen, dass schichtbezogene Deutungen zur Veränderung von religiösen Verhaltensweisen zu kurz greifen und vielmehr andere Faktoren wie das Geschlecht oder Stadt/Land-Differenzen im Hinblick auf Sozialisationsprozesse zu berücksichtigen sind. Der Sozialisation von und durch Ordensfrauen hat sich Ewald Frie gewidmet. Gerade in seinem Beitrag werden Transformationsprozesse, die Religion an sich und der Katholizismus im speziellen im 20. Jahrhundert durchlief, besonders deutlich.

Während die Beiträge der ersten beiden übergeordneten Kapitel zu den «Instanzen der religiösen Sozialisation» und der «Schichtspezifischen Sozialisation des Religiösen» in erster Linie auf Deutschland als Untersuchungsgebiet ausgerichtet sind, möchte das letzte übergeordnete Kapitel einen Vergleich verschiedener europäischer religiöser Sozialisationsprozesse ziehen. Der allgemeinen Ausrichtung der Beiträge geschuldet, veranschaulichen diese vier Beiträge überblicksartig religiöse Transformationsprozesse. Der vergleichende Ansatz ist gut gedacht, allerdings passen nur der Beitrag von Bert Roebben und Kim de Wildt über religiöse Sozialisierung und religiöse Erziehung in den Niederlanden, der Beitrag von Hugh McLeod zur religiösen Sozialisation in Grossbritannien und der Beitrag von Margrete Søvik zur muslimischen religiösen Sozialisation wirklich schlüssig zusammen. Till Kösslers Analyse zur katholischen Sozialisation im frühen Franqismus in Spanien ist sehr erhellend, fügt sich aber wenig ein in die sonst eher allgemein gehaltenen «Gesamtdarstellungen».

Alles in allem vermag der Sammelband genau das einzuhalten, was Klaus Tenfelde in seinem einleitenden Beitrag zu versprechen versucht, nämlich Religionsgeschichte als Sozialgeschichte zu betreiben und einen Beitrag zur historischen (religiösen) Sozialisationsgeschichte zu leisten.

Zitierweise:
Martina Sochin D’Elia: Rezension zu: Klaus Tenfelde (Hg.), Religiöse Sozialisationen im 20. Jahrhundert. Historische und vergleichende Perspektiven, Essen, Klartext Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 722-724.